Poetry Slam im deutschsprachigen Raum - Teil 4

 



Hallo, servus und habidere, meine liebe Leserschaft! Anbei, im vierten Teil meiner Diplomarbeit-Artikelreihe, fängt der Punkt Analyse an. Dazu gehört eine Einführung der Analyse und der erste Poetry Clip, nämlich Eines Tages, Baby von der deutschen Slammerin Julia Engelmann. Viel Spaß beim Lesen. Los geht's!


Analyse

In diesem Teil der Arbeit wird die mit der Gruppe ausgeführte Analyse von drei Poetry Clips dargestellt, sowie Überlegungen zum Lehr-und Lernprozess und die gesamte Erfahrungen meiner Praxisforschung im Thema “Poetry Slam im Landeskundeseminar”. 


Poetry Clips

Meiner Forschungsgruppe habe ich drei Poetry Clips gezeigt, von drei verschiedenen SlammerInnen: Julia Engelmann mit ihrem Text Eines Tages, Baby, der früher schon erwähnt wurde, aus der deutschen Slam-Szene, die Österreicherin Mieze Medusa mit Hoch die Internationa...lala und Simon Chen aus der Schweiz mit Abdankungsrede. Gemeinsam mit den Teilnehmenden habe ich diese Videos und deren Inhalt analysiert und besprochen, die Ergebnisse davon präsentiere ich in diesem Abschnitt.


Julia Engelmann: Eines Tages, Baby (Deutschland)




Dieses Video wurde 2013 aufgenommen und zeigt Julia Engelmann, ehemalige Psychologiestudentin in ihrem ersten Slam, womit sie ihre Karriere als Slam-Poetin begann. Der Slam selbst fand an der Bielefelder Universität statt, wo auch Engelmann studierte. Dieses Video entwickelte sich bald zum viralen Hit und wurde bis heute über 10 Millionen Mal gesehen. Eines Tages, Baby könnte ein wenig als die deutsche Übersetzung des berühmten englischsprachigen Liedes One Day/Reckoning Song (Asaf Avidan & The Mojos) betrachtet werden, denn die Slammerin singt dessen Refrain vor dem Anfang des tatsächlichen eigenen Slamtextes. Während ihrer Performance zeigt Julia Engelmann in richtigen Maßen Begeisterung für ihr eigenes Thema und weckt die Interesse des Publikum. In ihrem Text geht es in erster Linie um verpasste Chancen im Leben und um das Gefühl des ewigen Aufschiebens von Herzenswünschen, weshalb dieser Slam in den Medien als Ausdruck eines Lebensgefühls einer ganzen Generation (nämlich der Generation Y) interpretiert wird. Der Text ist ebenfalls ein flammendes Plädoyer gegen Antriebslosigkeit und die Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. In kritischer Selbstreflexion wird hier das Problem vieler jungen Menschen der Generation Y beschrieben: die meist wohlbehütet bei sogenannten Helikopter-Eltern aufgewachsene Millennials und ersten Digital Natives sehnen sich nach Freiräumen und Selbstverwirklichung, leiden aber gleichzeitig zunehmend unter Depressionen und Orientierungslosigkeit. 

Unschlüssig stehen viele vor einer unendlichen Auswahl an Möglichkeiten und können sich nicht entscheiden, welchen Weg sie im Leben einschlagen möchten (wie auch das bekannte Sprichwort sagt: “Wer die Wahl hat, hat die Qual.”). Dieses Gefühl wird in Julia Engelmanns Gedicht schonungslos auf den Punkt gebracht, rüttelt den Zuhörer wach und ruft zum radikalen Umdenken auf, mit optimistischen Blick auf die eigene Zukunft und dem Appell, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und zwar nicht irgendwann, aber jetzt. Der Slamtext handelt weiterhin über Fehler zu machen, genauer gesagt, von der Angst davor und auch darüber, dass es in Ordnung sein sollte, manchmal Fehler zu machen, denn damit lernt man auch und sammelt Erfahrungen, sodass die gemachte Fehler beim nächsten Mal nicht wiederholt werden. Im weiteren wird der Zuhörer motiviert, nachzudenken, warum man eigentlich aufschiebt, welche Hemmungen es erschweren, das Leben in die eigene Hände zu nehmen, bzw. das Altwerden und die Angst davor werden auch thematisiert, die Slammerin bringt ebenfalls die Wichtigkeit vom Genießen der Zeit, der Gegenwart und vom Sammeln der Erinnerungen zum Ausdruck. 

Gesamter Text: 

Eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Oh Baby, werden wir alt sein 

und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können. 

Ich, ich bin der Meister der Streiche, wenn´s um Selbstbetrug geht. 

Bin ein Kleinkind vom Feinsten, wenn ich vor Aufgaben stehe. 

Bin ein entschleunigtes Teilchen, kann auf keinstem was reißen, 

lass mich begeistern für Leichtsinn – wenn ein anderer ihn lebt. 

Und ich denke zu viel nach. Ich warte zu viel ab. Ich nehme mir zu viel vor – und ich 

mach davon zu wenig. 

Ich halte mich zu oft zurück – ich zweifel alles an, ich wäre gerne klug, 

allein das ist ziemlich dämlich. 

Ich würde gern so vieles sagen 

aber bleibe meistens still, 

weil, wenn ich das alles sagen würde,

 wär das viel zu viel.

Ich würde gern so vieles tun, 

meine Liste ist so lang, 

aber ich werde eh nie alles schaffen – 

also fange ich gar nicht an. 

Stattdessen hänge ich planlos vorm Smartphone, 

warte bloß auf den nächsten Freitag. 

Ach, das mach ich später, 

ist die Baseline meines Alltags. 

Ich bin so furchtbar faul 

wie ein Kieselstein am Meeresgrund. 

Ich bin so furchtbar faul, 

mein Patronus ist ein Schweinehund. 

Mein Leben ist ein Wartezimmer, 

niemand ruft mich auf.

Mein Dopamin, das spare ich immer – 

falls ich´s nochmal brauch. 

Und eines Tages, Baby, werde ich alt sein. Oh Baby, werde ich alt sein 

und an all die Geschichten denken, die ich hätte erzählen können.

Und Du? Du murmelst jedes Jahr neu an Silvester 

die wiedergleichen Vorsätze treu in dein Sektglas

und Ende Dezember stellst Du fest, das du Recht hast, 

wenn Du sagst, dass Du sie dieses Jahr schon wieder vercheckt hast. 

Dabei sollte für Dich 2013 das erste Jahr vom Rest deines Lebens werden. 

Du wolltest abnehmen, f

rüher aufstehen, 

öfter rausgehen, 

mal deine Träume angehen, 

mal die Tagesschau sehen, 

für mehr Smalltalk, Allgemeinwissen. 

Aber so wie jedes Jahr, 

obwohl Du nicht damit gerechnet hast, 

kam Dir wieder mal dieser Alltag dazwischen. 

Unser Leben ist ein Wartezimmer, 

niemand ruft uns auf. 

Unser Dopamin das sparen wir immer, 

falls wir´s nochmal brauchen. 

Und wir sind jung und haben viel Zeit. 

Warum sollen wir was riskieren, 

wir wollen doch keine Fehler machen, 

wollen auch nichts verlieren.

Und es bleibt soviel zu tun, 

unsere Listen bleiben lang 

und so geht Tag für Tag 

ganz still ins unbekannte Land. 

Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Oh Baby, werden wir alt sein, 

und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können 

und die Geschichten, die wir dann stattdessen erzählen werden, 

traurige Konjunktive sein wie 

„Ein mal bin ich fast einen Marathon gelaufen 

und hätte fast die Buddenbrooks gelesen und einmal wäre ich beinah bis die Wolken 

wieder lila waren noch wach gewesen und fast, fast hätten wir uns mal demaskiert 

und gesehen, wir sind die Gleichen, 

und dann hätten wir uns fast gesagt, wie viel wir uns bedeuten.“ 

Werden wir sagen. 

Und das wir bloß faul und feige waren, 

das werden wir verschweigen,

und uns heimlich wünschen, 

noch ein bisschen hier zu bleiben.

Wenn wir dann alt sind und unsere Tage knapp, 

und das wird sowieso passieren, 

dann erst werden wir kapieren, 

wir hatten nie was zu verlieren – 

denn das Leben, das wir führen wollen, 

das können wir selber wählen.

Also lass uns doch Geschichten schreiben, 

die wir später gern erzählen. 

Lass uns nachts lange wach bleiben, 

auf´s höchste Hausdach der Stadt steigen, 

lachend und vom Takt frei die allertollsten Lieder singen. 

Lass uns Feste wie Konfetti schmeißen, 

sehen, wie sie zu Boden reisen 

und die gefallenen Feste feiern, 

bis die Wolken wieder lila sind. 

Und lass mal an uns selber glauben, 

ist mir egal, ob das verrückt ist, 

und wer genau guckt, sieht, 

dass Mut auch bloß ein Anagramm von Glück ist. 

Und – wer immer wir auch waren – 

lass mal werden wer wir sein wollen. 

Wir haben schon viel zu lang gewartet, 

lass mal Dopamin vergeuden. 

„Der Sinn des Lebens ist leben“, 

das hat schon Casper gesagt, 

„let´s make the most of the night“, 

das hat schon Kesha gesagt. 

Lass uns möglichst viele Fehler machen, 

und möglichst viel aus ihnen lernen. 

Lass uns jetzt schon Gutes sähen, 

dass wir später Gutes ernten. 

Lass uns alles tun, 

weil wir können – und nicht müssen. 

Weil jetzt sind wir jung und lebendig, 

und das soll ruhig jeder wissen, 

und – unsere Zeit die geht vorbei. 

Das wird sowieso passieren 

und bis dahin sind wir frei 

und es gibt nichts zu verlieren. 

Lass uns uns mal demaskieren 

und dann sehen, wir sind die Gleichen, 

und dann können wir uns ruhig sagen, 

dass wir uns viel bedeuten,

denn das Leben, das wir führen wollen, 

das können wir selber wählen.

Also los, schreiben wir Geschichten, 

die wir später gern erzählen. Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Oh Baby, 

werden wir alt sein 

und an all die Geschichten denken, die für immer unsere sind.


Vgl. Bolle&Marco: Julia Engelmann: „Eines Tages, baby, werden wir alt sein!“ https://kommwirmachendaseinfach.de/eines-tages-baby-werden-wir-alt-sein/


Sodala, das war's dann mit der Analyse des ersten Poetry Clips. Im nächsten Teil der Artikelreihe folgt dann Hoch die Internationa...lala, von der Österreicherin Mieze Medusa. Bleibt unbedingt dran, wenn ihr interessiert seid. Macht's gut, bis zum nächsten Artikel! Tschüsserl-Busserl! 😘

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