Poetry Slam im deutschsprachigen Raum - Teil 2
Hallo, servus und habidere, meine liebe Leserschaft! Ich bin zurück mit dem zweiten Teil dieser spannenden Artikelreihe. Anbei geht es um die folgenden Punkte:
- Merkmale und Charakteristika
- Einflüsse auf Poetry Slam in Deutschland
- Kommunikation innerhalb der Poetry-Slam-Szene
Worauf wartet ihr noch? Los geht's! Viel Spaß beim Lesen!
Merkmale und Charakteristika
Poetry Slams sind für viele Autoren die erste Chance, einen Text der Öffentlichkeit vorzustellen. Die Teilnahme an einem Slam ist zugleich eine durchaus einfache Möglichkeit, auf das eigene Werk aufmerksam zu machen: sowohl die Teilnahme an einem Literaturwettbewerb als auch die gedruckte Publikation eigener Texte gestaltet sich wesentlich komplizierter als ein Live-Auftritt bei einem Poetry Slam, zu dem jeder ambitionierte Künstler zugelassen ist und mit seinen Werken ein breites Publikum erreicht und schon mit ein paar guten, kurzen Texten überzeugen. Eine formale inhaltliche Definition des Genres ist schwierig, da es keinerlei Vorgaben oder Regeln gibt. Das Ziel der Slammer ist der Versuch, auf unkonventionelle Art und Weise dem modernen, verwirrenden Leben in einer Zeit der ständigen Veränderungen literarisch beizukommen und dies frei von jeglichem akademischen Zwang, mit fließenden Grenzen zwischen Lyrik und Prosa. Die unterschiedlichste Themen werden in Slam-Texten in verschiedenen Formen behandelt, deswegen erweist sich eine Klassifizierung als schwierig. Es gibt jedoch bestimmte Inhalte und Grundmuster, die immer wieder auftauchen. Selbstreflexionen, aktuelle politische und gesellschaftliche Kommentare, Milieuschilderungen sowie kritische Standpunkte gehören dazu. Die Präsentationsform variiert meistens zwischen Gedicht, Prosaminiatur oder Monolog.
Vgl. Westermayr, Stefanie: Poetry Slam in Deutschland. Theorie und Praxis einer multimedialen Kunstform, 2010 Tectum Verlag Marburg, S. 91-98
Häufig werden Erzählungen über das Leben eines bestimmten Typs präsentiert: Ansichten und Erlebnisse werden in der Rolle einer bestimmten Person wiedergegeben oder aus der Erzähler-Perspektive über das Leben eines Menschen reflektiert.
Beispiele:
Die Eistorte “Henkersmahl”
“Der Henker
Sitzt
nach Feierabend
in seinem Fauteuil
entspannt
vor dem Fernseher [...]”
Vgl. Eistorte, Die: Henkersmahl. In: Poetry Slam. Was die Mikrofone halten. Hrsg. Von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. 1. Auflage. Riedstadt: Ariel, 2000. S. 118
Hier wird allein durch Verwendung der dritten Person der “Henker” als eine Typologie aufgemacht, die im Text nicht charakterisiert wird. Der Typus steht alleine, es entsteht eine eigentümliche Situation durch die Beschreibung unerwarteter Bilder: verstärkt durch Alliterationen entwickelt sich eine Komik, die nicht zum erwarteten Typus passt.
Paul Hess “Kapitel Drei der Harmonie”
“Ein Schriftsteller
Ohne Veröffentlichung, doch mit gewissem Talent, ergeht er sich
in Kurzgeschichten,
Gedichten, schreibt derzeit an einem Buch mit voraussichtlich
vier Kapiteln, bei Kapitel Drei angelangt. [...]”
Vgl. Hess, Paul: Kapitel Drei der Harmonie. In: Kaltland Beat. Neue deutsche Szene. Hrsg. von Boris Kerenski und Sergiu Stefanescu. 1. Auflage. Stuttgart: Ithaka, 1999. S. 335
Der Typus des “Schriftstellers” wird im Text eingehend dargestellt. Durch die Darlegung in der dritten Person werden Einblicke in das Leben des Schriftstellers gegeben. Seine Arbeit, Krankheit und Beziehung reflektiert er bis zu seinem Tod detailliert.
Bei der Präsentation von Selbstreflexionen reflektiert der Slammer seinen Status als Person. Das können Reflexionen in satirischer, zynischer oder unterhaltsamer Form sein, die den jeweiligen Status (Mann, Frau, Student, Slammer, Kellner, Pazifist, Liebhaber, Geliebte) darstellen.
Alexandra Becht “Koexistenz”
“Steh ich wirklich hier
Und schwinge große Reden
oder steh ich neben mir
und ein andrer zieht die Fäden [...]
es trügt der Schein
der mehr Poet ist als ich je sein werde [...]”
Vgl. Becht, Alexandra: Koexistenz. In: Planet Slam. Das Universum Poetry Slam. Hrsg. von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. 1. Auflage. Riemerling: Yedermann Verlag, 2002. S. 19
Durch die Verknüpfung von Poesie und Realität wird der Status als “Poet” reflektiert. Die Frage nach der wahren Realität, nach dem, was wirklich sicher ist, stellt sich durch die verschiedene Wahrnehmung der Menschen. Das Fazit ist, dass man sich nur dessen sicher sein kann, was man selber macht und denkt.
Jo Widmann “Nachtschicht”
“Ich drehe meinen Kopf nach rechts
Und erkenne die Silhouette des anderen
Geschlechts
das neben mir liegt und mein Blick auf den Horizont versiegt [...]”
Vgl. Widmann, Jo: Nachtschicht. In: Poetry Slam. Was die Mikrofone halten. Hrsg. von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. Riedstadt: Ariel, 2000. S. 40
Durch das Abdriften in den Status “Geliebter” wird ein Traum in die lyrische Realität eingebunden. Zwischen Sein und Schein wird über eine intime Situation reflektiert, die sich jedoch als Traumsequenz herausstellt.
Gesellschaftliche und politische Kommentare und Kritiken: entweder in der Form von programmatischen Aussagen oder in Einbindung in ein Gedicht.
DAN “an den real existierenden poetry slam”
“was wird es euch nutzen
dieses sprachliche onanieren
dieses verbale entblößen -
gib kein haar vom Kopf deiner Vision [...] verschont mich mit eurem lob und eurem tadel
geht einfach nach hause seid glücklich [...]
kläfft
wenn jemand die sprache erniedrigt
um sich zu erhöhn [...]”
Vgl. DAN: an den real existierenden poetry slam. In: Poetry Slam. Was die Mikrofone halten. Hrsg. von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. Riedstadt: Ariel, 2000. S. 86
Die Kritik an modernen Poeten und ihrem Umgang mit ihren Texten wird zu einer programmatischen Aufforderung, die eigene Kreativität zu bewahren.
M.E.R.A.L. “Wenn du glaubst...”
“Macht es einen Sinn im System mitzugeh’n wie
Planeten die sich um die eigne Achse dreh’n
Und trotzdem nicht allein zu steh’n?
Damals in der Gegenwart und jetzt in der
Vergangenheit,
die Scheiße die ich kick ist Gesellschaftskritik
geschickt gemischt und verpackt in ein Reimpaket [...]”
Vgl. M.E.R.A.L.: Wenn du glaubst... In: Poetry Slam. Was die Mikrofone halten. Hrsg. von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. Riedstadt: Ariel, 2000. S. 29
Die Gesellschaft wird subjektiv kritisiert, ein Aufruf an einen unbekannten Adressaten und dessen Blindheit gegenüber den Problemen der Menschheit. Die Probleme, die man im alltäglichen Leben zu sehen bekommt und nicht reagiert. Eindringlich wird dazu aufgerufen, sich den Dingen zu stellen, mit denen man sich sonst nicht belasten will.
Slam-Texte bestehen meistens aus einer Mischung der obengenannten Formen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Stile, Textvarianten und strukturelle Kennzeichen sowie spezielle Textelemente, um ein Werk für den Vortrag besonders reizvoll für die Zuhörer zu gestalten. Dabei sind oft folgende Stilelemente bevorzugt:
- Stabreime
“Fettabsauge-Facharzt Friedrich Faltermeyer
Formulierte für fünfjährige Fachkliniks-Feier
Folgendes fragwürdiges Festreden-Fanal:
‘Fröhlich feierndes Fachpersonal!
Festanlass: fruchtbare Fettwirtschaft
Fulminante Finanzen, fabelhaft!’ [...]”
Vgl. Dreppec, Alex: Fettabsauge-Facharzt Fieberfantasien. In: Planet Slam. Das Universum Poetry Slam. Hrsg. Von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. 1. Auflage. Riemerling: Yedermann Verlag, 2002. S. 130
- Lautmalerei
“Wenn im dichten licht bei garbsen pflichtbewusst die parzen
quarzen
und am schwarzen meer ein wicht mit warzen im gesicht und
harzen zum begehr einst schwergewichtiger legionär mit federn teer und
schiessgewehr [...]”
Vgl. Koslovsky, Wehwalt: Ode an die Hirnhode. In: Planet Slam. Das Universum Poetry Slam. Hrsg. Von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. 1. Auflage. Riemerling: Yedermann Verlag, 2002. S. 22
Durch eine Akkumulation von lautmalerischen, teilweise neuen Wortschöpfungen wird eine Spannung erzeugt, die in einer metapoetischen Ebene endet.
- Interaktion durch Fragen, die vom Publikum beantwortet werden sollten
“[...] So, the next time you meet a nut, what do you have to do?
Yes, ... crack the nut! [...]”
Vgl. Mergen, Ryan: Crack the nut. Vortrag beim Poetry Slam am 08.02.2004 im “Substanz”, München
Etwas Unglaubwürdiges - Nüsse wollen die Weltherrschaft an sich reißen - wird auf unterhaltende Art und Weise in einem glaubwürdigen Appell eingesetzt. Der Zuschauer wird durch die sich ständig wiederholende Frage in die unglaubliche Situation mit einbezogen und ist zur Reaktion gezwungen.
- Sprache
Mundartliche Werke werden gelegentlich bei einigen Slams präsentiert, je nach Dialekt der Region. Der Dialekt kann auch dazu benutzt werden, den Text einer Rolle anzupassen. Oder der Slammer kann mit seinem Dialekt versuchen, einen Wiedererkennungswert zu erreichen. Bei den “6. Rheinland-Pfälzischen Literaturtagen” in Ludwigshafen wurde der “Dialekt-Poetry-Slam” als erster landesweiter Poetry Slam in Mundart veranstaltet. Dabei wurden aus über dreißigBewerbungen zehn Finalisten ausgewählt, die ein “Feuerwerk verbaler Attacken und die Vielfalt der Dialekte” präsentiertern. In vielen Slam-Texten zeichnet sich die Sprache durch ihren Alltags- und Zeitgeistcharakter aus, es werden populäre Begriffe der Jugendsprache eingebunden: “Das war’n cooler Wintertag” “im groove nach freiheit”
Böttcher, Bastian: Cooler Winter. In: Poetry Slam. Was die Mikrofone halten. Hrsg. von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. 1. Auflage. Riedstadt: Ariel, 2000. S. 111
Schmidt, Martin: Pogolog (Let it flow). In: Poetry Slam. Was die Mikrofone halten. Hrsg. von Ko Bylanzky und Rayl Patzak. 1. Auflage. Riedstadt: Ariel, 2000. S. 55
Es kann beim Zusammenspiel von Sprache und Performance durchaus von einer dramaturgischen Umsetzung gesprochen werden, da die Wirkung der Texte durch inhaltliche Spannungssteigerung und rhetorische Mittel wie Emphasen und Wortspiele erreicht wird und durch Gestik und Mimik noch unterstrichen wird. Die Slammer zeigen in extremen Standpunkten und Darstellungen in ihren Texten eine Offenheit, mit der sie alltägliche Themen präsentieren. Diese Offenheit wird durch Fäkal- und Sexsemantik noch verstärkt und teilweise ad absurdum geführt. Wenn man davon ausgeht, dass der Slammer bei seinem Auftritt einem Publikum gegenübersteht, das über ein ähnliches Wissen verfügt und in einer vergleichbaren sozialen Situation agiert, nutzt der Slammer diese Ähnlichkeiten gezielt, um zu provozieren und Aufmerksamkeit zu erregen. Die Reaktion des Publikums macht sich ziemlich schnell deutlich, wie die offene und direkte Präsentation aufgenommen und gewertet wird.
Vgl. Westermayr, Stefanie: Poetry Slam in Deutschland. Theorie und Praxis einer multimedialen Kunstform, 2010 Tectum Verlag Marburg, S. 99
Einflüsse auf Poetry Slam in Deutschland
Poetry Slam ist kein einheitliches Genre, sondern man versteht darunter lediglich Literatur, die für das hörende Publikum konzipiert ist und deshalb auch eine gewisse Lage nicht überschreiten darf, aus diesem Grund lassen sich direkte Einflüsse nicht festhalten. Jeder Slam-Poet hat seine eigenen Einflüsse und seine eigenen literarischen Vorlieben, dennoch kann die Gesamtentwicklung auf verschiedene literarische Strömungen zurückgeführt werden.
Social Beat
Westermayr sieht als Haupteinfluss auf den deutschen Poetry Slam die Social-BeatBewegung in den 1990er Jahren in Deutschland. Beide Literaturformate werden von Ernst inhaltlich gleich zusammengerückt, indem er sie unter der Überschrift “Social Beat und Poetry Slam” zusammenfasst. Die Social-Beat-Bewegung wollte keine homogene Szene darstellen, sondern sie setzte sich aus vielen kleinen Künstlergruppen zusammen, welche in einem Netzwerk in Kontakt standen, gemeinsame Projekte planten, sich über ihre literarische Arbeit austauschten und Zeitschriften in Eigenverlagen veröffentlichten, unabhängig von den MainstreamMedien. Die Lesungen fanden in besetzten Häusern, in Kneipen, auf der Straße und in Unterführungen statt, weil man dabei an der Hochkultur nicht denken wollte. Diese Tendenz ist auch noch heute im Poetry Slam erkennbar. Auf Slams sind die Autoren immer noch mitten im Publikum und sitzen auch meist zwischen den Besuchern. Ebenfalls werden ihre Texte ab und an auf öffentlichen Plätzen oder in Zügen vorgetragen. Zum Beispiel gründete so der Kreuzlinger Poet Matze B. die Saufpoeten, die in Bars dem Publikum “Worte gegen Alkohol” anbieten. Wer einen Jägermeister spendiert, bekommt einen Schüttelreim oder einen Freestyle als Gegenleistung und für einen Longdrink gibt es eine Kurzgeschichte.
Hip-Hop und Rap
Hip-Hop und Rap waren auch maßgeblich am Stil des Poetry Slams beteiligt. Bei vielen Slam-Poeten ist eine Nähe zum Hip-Hop zu erkennen und auch Klangbilder werden rhythmisch so zusammengesetzt, dass die Sätze wie ein Hip-Hop-Beat gesprochen werden. Vor ihrem Eintritt in die Slam-Szene waren manche Poeten auch als Rapper bekannt (z. B. Gauner, Nina Sonnenberg alias Fiva MC), oder rappen immer noch neben dem Slam (Tilman Döring, Tobias Kunze). Auch das sogenannte vierte Element des Hip-Hops - die Beatbox - wird als rhythmische Untermalung der Texte benutzt (Stefan Döring, Dalibor, Julius Fischer, Sebastian 23). Rapper beeinflussen immer noch die meisten Poeten und Hip-Hop-Musiker sind unter Slammern besonders beliebt, denn sie verwenden oft zahlreiche Wortspiele in ihren Texten und pflegen einen kreativen Umgang mit der Sprache.
Popliteratur
Auch die Popliteratur hatte einen bedeutsamen Einfluss auf Poetry Slam, der in den Feuilletons und in der Kulturszene sogar mit Trashliteratur, Social Beat und Popliteratur gleichgesetzt wurde, sicherlich wegen der nicht hierarchischen Organisation der Subkultur mit wechselseitigen Einflüssen und fließenden Übergängen. Auf diese Weise war eine Trennung für Außenstehende nur schwer möglich, die Literaten waren zumal in mehreren Subkulturen gleichzeitig zu finden. Der Münchener Schriftsteller Jaromir Konecny wurde zum Beispiel dem Social Beat zugeordnet, der Social-Beat-Angehörige Jan Off wurde laut seiner Biografie in der Poetry-Slam- und Social-Beat-Szene bekannt. Enno Stahl versucht, den Begriff abzugrenzen mit einer Bezeichnung von Poetry Slam als “Live-Literatur, Literatur für die und auf der Bühne”, von Social Beat als “literarisches Untergrund-Netzwerk” und von Trash als ein Schreibstil.
Beat Generation
Die amerikanische Slam Poetry wurde mehr von der Beat Generation und den Beatniks beeinflusst, zu den solche Protagonisten wie Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Neal Cassady, William S. Borroughs, Lawrence Ferlinghetti und Gregory Corso gehören. Geöffnet wurden Poesie und Prosa durch einen freien und expressiven Ausdruck, der sowohl Umgangssprache als auch obszöne Worte erlaubte. Die Themen der Beat Generation umfassten Sex, Drogen und Elendserfahrungen. Eine Parallele zu Slam Poetry sind ebenso Authentizität und ein gewisser dokumentarischer Charakter, wie ihre Auftritte in offenen Poetry-Cafés. Die Kombination von Jazz und Literatur ist auch nicht nur bei den Beatniks und dem Gründungsvater des Slams zu finden: ein Jazz Poetry Slam, bei dem eine Jazz-Band im Hintegrund die Texte begleitet, wird ebenfalls vom Frankfurter Poetry Slam veranstaltet. Zur Folge der Beatbewegung (Parallele zum Slam) gehörten interaktive Strukture eines alternativen Literaturbetriebs, der über lose Netzwerke (Kleinverleger, Newsletter, Medien, Film, bildende Kunst, Creative-Writing-Seminare, offene PoetryCafés) einen Weg ins öffentliche Bewusstsein fand und so die literarische Landschaft erweiterte. (Preckwitz, 2002, S. 135)
Dadaismus
Vielleicht nicht unmittelbar oder direkt, trotzdem hat auch der Dadaismus sein Erbe in den Poetry Slam eingebracht. Auf diese Weise haben die Beatniks in ihrem LiveLiteratur-Verständnis “voller Begeisterung die performanceartigen Auftritte von Dada und Surrealismus zur Kenntnis genommen.” (Stahl 1998)
Erheblich wirkte der Dadaismus auf Künstler und Strömungen, die danach kamen, aus. Die Funktion der bürgerlich-humanistischen Kunst wurde vom Ersten Weltkrieg in Frage gestellt, der ein ungeahntes Maß an Zerstörung, Tod und Leid mit sich brachte. Dadaismus bedeutete Antikunst, war nicht definierbar und besaß keine Ordnung. Seine Ziele waren zweifeln, den Individualismus betonen, sowie gefestigte Ideale und Normen zerstören. Der Zufall ersetzte die Planung, die Dekonstruktion die Konstruktion und Nonsens den Sinn, um künstlerisch zu experimentieren und das Publikum zu provozieren. 1916 wurde im Cabaret Voltaire von Hugo Ball, Tristan Tzara, Richard Heulsenbeck, Marcel Janco und Hans Arp der Grundstein für den Dadaismus in Zürich gelegt. Wie Slam-Poeten, auch Dadaisten finden ihr Publikum und ihre Bühnen in Cafés, Clubs und Galerien. Sie verfügen auch über Netzwerke, die ihnen Tourneen und Auftritte in Deutschland und Europa ermöglichen. Sowohl bei Dadaisten als auch bei Slam-Poeten ist der Versuch, die Erwartungen des Publikums zu kalkulieren bzw. Emotionen und Reaktionen herauszufordern von großer Bedeutung. Dadaisten wollen auch Antikunst und Provokation, was Slam-Poeten nicht zwangsläufig verwenden, dennoch gibt es eine vorherige Hineinsetzung in das eigene Publikum und die Antizipation der Reaktionen wird versucht. Im Poetry-Slam kommt es auch die Darstellung eines bestimmten Typus von Mensch vor und dabei die Bedienung der jeweiligen Sprache (Dialekt, Slang, Jugendsprache).
Die dauerhafte Annehmung der Rolle einer Kunstfigur ist ebenfalls zu beobachten (z.B. Nico Semsrott, der depressiv die Bühne betritt, seine Kaputze tief ins Gesicht zieht und sehr leise, bewegungslos, mit Fistelstimme und gesenkten Hauptes vorliest). Die größte Gemeinsamkeit zwischen Dadaismus und Poetry Slam: die Vielfalt und die Nuancen eines Textes sich nicht auf dem Blatt, sondern nur in der Oralität und in der Live-Performance vor einem Publikum entfalten können.
Vgl. Willrich, Alexander: Poetry Slam für Deutschland. Die Sprache. Die SlamKultur. Die mediale Präsentation. Die Chancen für den Unterricht, 2010 Lektora GmbH, Paderborn, S. 21-27
Kommunikation innerhalb der Poetry-Slam-Szene
Die deutsche Slam-Szene nutzt sehr vielfältige Mittel zur Kommunikation innerhalb der “Gemeinschaft”. Dazu gehören primär soziale Netzwerke, die zum Kontakt mit einzelnen Poeten oder kleineren Gruppen dienen. Außer klassichen sozialen Netzwerken und/oder Videokanälen (Facebook, Myspace, Weblog, Youtube usw.) werden aber auch andere Informationskanäle in der gesamten deutschsprachigen Szene oder zumindest in einer größeren Region des deutschsprachigen Raums benutzt.
Slamily
Am 16. November 1999 ins Leben gerufen, Slamily ist eigentlich eine News-Group von Yahoo. Der Name ist ein Neologismus aus den Wörtern “Slam” und “Family” und bringt den Zusammenhalt innerhalb der Szene zum Ausdruck. Über diese YahooGruppe ist es möglich, Rundschreiben an alle angemeldeten Benutzer zu schicken, das Schreiben direkt im eigenen E-Mail-Posteingang zu empfangen und auf diese Weise auch an die gesamte Slamily zu antworten. Auf der Slamily wird alles, was die gesamte Szene interessieren könnte, geteilt und kundgetan, z.B. Medienberichte über Poetry Slam, Veranstaltungen, Anfragen von Slam-Poeten, usw. Diese Plattform ist eine der ältesten Instanzen innerhalb der Szene und wird fast ausschließlich von Szenenmitgliedern genutzt. Auf anderen Portalen finden sich auch Außenstehende, Fans oder Interessierte ein, während die Slamily ein verhältnismäßig geschlossener Raum ist, deren Inhalte ohne Anmeldung nicht lesbar sind.
Myslam
2007 gründeten der Slam-Poet Wolfgang Dinkel und der Slam-Master Simon Engel die Internetseite www.poetry-slam-portal.de, denn die beiden sahen kein zeitgemäßes Medium mehr in der Yahoo-Gruppe Slamily. Wolfgang Dinkel wählte einen neuen Namen, im Mai 2008 ist www.myslam.de online erschienen. Ein Jahr später wurde das Design der Seite erneut bearbeitet, um sie zeitgemäßer zu gestalten und sich sowohl funktional als auch optisch an soziale Netzwerke des Web 2.0 anzunähern. Die Domain wurde im Oktober 2009 in www.myslam.net geändert und ging als internationale Version online, die in mehreren Sprachen verfügbar ist. Für SlamPoeten ist es seitdem möglich, ihre Platzierungen aus vergangenen Slams anzugeben und andere Slam-Poeten zu bewerten. Auch eine oft kritisierte Statistik-Funktion wird auf der Seite angeboten, welche die aktivsten Slam-Poeten in verschiedenen “Disziplinen” platziert (z.B. “zurzeit unterwegs”, “die meisten Auftritte”, “Forenaktivität”, usw.). Laut der Kritik ist diese Statistik manipulierbar, fördert das Konkurenzdenken und ist ungerecht gegenüber Slammern, die viel unterwegs sind, ihre Auftritte trotzdem nicht bei Myslam eintragen, die auf diese Weise auch nicht von der Statistik erfasst werden. Auf Myslam existiert auch ein Forum, dessen Inhalte per E-Mail an allen Mitglieder geschickt werden und somit ähnlich funktioniert, wie Slamily. Weiterhin ist auf der Seite ein Veranstaltungskalender zu finden, in den anstehende Poetry Slams eingetragen werden können. Die Poeten haben die Chance, ihre Teilnahme an einer Veranstaltung markieren und diesen Termin direkt als “kommenden Auftritt” ins eigene Profil übernehmen. Außerdem können Poetry-Slams auf eine Deutschlandkarte angezeigt werden, über die Slam-Master aktuelle Termine und Veranstaltungsinformationen und eine eigene Profilseite für Besucher öffentlich darstellen und bewerben. Mit 40 000 Besuchen pro Monat und mit einem monatlichen Besucherzuwachs von 10% wurde aus Myslam die größte Plattform für Poetry Slam im deutschsprachigen Raum und eine der ersten Anlaufstellen für Menschen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen wollen. Geplant wird, Myslam besonders im europäischen Ausland in der Zukunft bekannter zu machen, damit die Erschaffung der nötigen Strukturen für eine gemeinsame Poetry-Slam-Szene ermöglicht wird. Die Kommunikation sowie die Informationsbeschaffung über andere Veranstaltungen und reisende Poeten soll ebenfalls erleichter werden, denn in vielen anderen europäischen Ländern die SlamVeranstalter statt Zusammenarbeit meistens eher miteinander konkurrieren. Eine Schnittstelle zu bestehenden Social Media soll auch geschaffen bzw. verbessert werden, um die Popularität und den Zugang zu den Myslam-Informationen auch für Außenstehende und Interessierte erleichtern zu können. In einem weiteren Schritt ist eine redaktionelle Aufarbeitung von Myslam nötig, mit Videos, Live-Übertragungen, Radio- und Textbeiträgen, damit die Beiträge für Slam-Besucher interessanter werden, denn zurzeit besteht Myslam fast ausschießlich aus szene-spezifischen und organisatorischen Informationen, welche den normalen Besuchern nicht von Belang sind.
Weitere Poetry-Slam-Portale
Obwohl das deutsche Myslam ein Portal für die Slam-Szene in Deutschland, Österreich und Schweiz ist, haben die beiden letzteren Länder eigene Webseiten im Internet für die Organisation der dortigen Szenen geschaffen. Weitere regionale Netzwerke existieren aber auch in Deutschland. Diese ermöglichen die Organisation in einem kleineren Bezirk und erlauben somit, solche Themen zu diskutieren, die für die gesamte deutschsprachige Szene irrelevant sind.
Für Österreich existiert die Seite www.poetryslam.at, welche gleich funktioniert, wie Myslam und über Profile für Slam-Poeten, ein Forum, einen Veranstaltungskalender sowie eine Übersicht zu den verschiedenen Veranstaltern und Veranstaltungsorten verfügt.
Auf der Schweizer Plattform www.poetryslam.ch werden keinerlei Kommunikationsmöglichkeiten angeboten, sondern lediglich Informationen zu Veranstaltern und Slam-Poeten in Form von Hyperlinks sowie ein Veranstaltungskalender und ein Online-Shop. Die News-Gruppe Dichtungsring wurde zur Kommunikation der Slam-Poeten und Veranstalter geschaffen und hier tauscht sich darüber die Schweizer Slam-Szene aus.
Ein Beispiel für regionale Plattformen im deutschen Raum ist das Forum www.frankenslam.de, worüber sich der fränkische Teil vom Bundesland Bayern organisiert. Der Blog Slam-OWL (www.slam-owl.de) versorgt die Region Ostwestfalen-Lippe mit Informationen zu Poetry Slam und deckt gebündelt die Slams in Bielefeld, Detmold, Lemgo, Gütersloh,´und Paderborn ab. Die Sammlung der Termine und Veranstaltungsorte für Berlin wird von Slammin’ Poetry (www.slamminpoetry.de) übernommen, aber auch Nutzer außerhalb Berlins nutzen die Seite besonders gern, weil die besten Beiträge der Berliner Poetry Slams auf Video mitgeschnitten und via YouTube in die Internetseite eingebunden werden. Die hauseigene Videothek ist mittlerweile auf 120 Videos angestiegen.
Vgl. Willrich, Alexander: Poetry Slam für Deutschland. Die Sprache. Die SlamKultur. Die mediale Präsentation. Die Chancen für den Unterricht, 2010 Lektora GmbH, Paderborn, S.104-107
Sodala, das war's dann mit dem zweiten Teil meiner Diplomarbeit. Ich hoffe, dass der Inhalt euch gut gefällt und dass ihr auch auf die nächste Abschnitte neugierig seid. Es geht dann in der nächsten Etappe mit dem Punkt Erkenntnisinteresse und Ziele, Fragenstellungen weiter.
Bis dahin also! Macht's gut! Tschüsserl-Busserl! 😘
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