Adventroman "Abenteuer im Schatten der Nordlichter", Kapitel 1

 


BEMERKUNG: Am Ende des Kapitels findet ihr die Übersetzungen der vorkommenden norwegischen Sätze und Wörter (bei jedem Kapitel so).


Valeria Krüger-Ormstrøm - halb Österreicherin, halb Norwegerin - reiste bereits seit zweieinhalb Tagen mit dem Zug von Linz zur norwegischen Insel Sommarøy. Dort wollte sie mit ihrem Bruder Swen und dessen Freundin Larissa Blitzer auf hyggelige Weise die Advents- und Weihnachtszeit verbringen. Es ist selten, dass man sich den ganzen Dezember frei nehmen darf. Was Swen und Larissa betraf, beide (gerade 24 Jahre alt) studierten noch und hatten alle ihre Prüfungen früher belegt. Valeria, bereits 30, arbeitete für eine Online-Sprachschule, wo sie Deutsch und Norwegisch unterrichtete und schrieb ihre Doktorarbeit zugleich. Da sie beim Doktorat alle Fächer belegt hatte und ihr nur die Abschlussarbeit blieb - davon übrigens auch nicht so viel übrig - beschloss sie, den Dezember frei zu nehmen und mit ihrem Bruder eine längere Reise in ihrer zweiten Heimat zu machen. Da sie mit Swens Freundin, mit der Germanistikstudentin Larissa sehr gut auskam, wurde Larissa von beiden Geschwistern ebenfalls zur Reise eingeladen. Und da waren gerade die drei im Zug, bereits seit zweieinhalb Tagen. Larissa und Swen schliefen beisammen in einer breiten Umarmung, während Valeria noch wach war und die letzten Abschnitte ihrer Doktorarbeit verfasste. Ihr Thema war die skandinavische Mythologie im Sprachunterricht. Sie lächelte, indem sie sich an ihre Forschung mit ihren Lernenden erinnerte. Nach der Anfertigung der Doktorarbeit schickte Valeria diese an ihre Konsulentin, danach legte sie ihren Laptop in ihre Tasche zurück. Sie holte ihre Kopfhörer, aktivierte Bluetooth auf ihrem Handy, öffnete ihre persönliche Wiedergabeliste und wählte gute Musik. Sie hörte sehr viele Lieder, aber am häufigsten Horizont von den Poxrucker Sisters und Ulvetime von Songleikr. Diese waren Valerias Lieblingslieder seit Ewigkeiten. 

Früh am Morgen des 1. Dezembers wachten Valeria, Swen und Larissa auf, denn sie kamen in Tromsø an, wo sie umsteigen mussten, um später mit dem letzten Zug endlich nach Sommarøy ankommen zu dürfen. Dort wartete auf sie eine gemütliche Ferienhütte, die sie gebucht haben. Während der verbleibenden Reise wurde viel geplaudert, viel geplant, gelacht und musiziert. Denn Swen, der mittlerweile neben dem Musikstudium sogar Musiklehrer geworden ist, wollte gerade ein neues Musikvideo aufnehmen. 

- Leiwande Idee, broren min! - rief Valeria begeistert aus, als Swen ihr seine Idee mitteilte. - Ich kann dir bei der Aufnahme helfen, wenn du möchtest. - bot sie an.
- Tusen takk, søsteren min! Du er veldig snill! Es wäre toll, wenn du alles aufnehmen würdest. - reagierte Swen.
- Bare hyggelig! - antwortete Valeria. 
- Und du, meine liebe Larissa? Möchtest du mit mir singen? - fragte Swen ihre Freundin.
- Ja, gerne! - erwiderte Larissa. - Ich habe erst seit einem Monat angefangen, von euch Norwegisch zu lernen, aber es gibt ein Lied, dass ich gerne zusammen mit dir singen würde, lieber Swen. Und zwar Nytt imellom oss von Kari Bremnes. - schlug sie vor.
- Oh, das ist ein sehr romantisches Lied! - lächelte Swen. 
- Gute Wahl, liebe Larissa! - schaltete sich auch Valeria ein. - Okay, ich starte die Aufnahme! Eins, zwei, drei, los! - und sie drückte auf den Knopf.
Swen begann seine Gitarre sanft und ruhig zu spielen. Er intonierte die erste Strophe, dann kam Larissa mit der zweiten darauf. Dann wurde die nächste wieder von Swen gesungen, danach erneut von Larissa. Valeria war sehr berührt von dem Gesang der Beiden, die so klangen, als würden sie einen Liebesdialog führen. Sie erinnerte sich daran, dass ihre zwei Lieblingsmenschen genau vor vier Jahren und zwar genau vor Weihnachten sich kennengelernt hatten. Ihre Liebe wirkte aber immer noch so frisch und lebendig wie am ersten Tag. Valeria freute sich sehr für die Beiden. Ihre Situation in der Liebe war ein bisschen komplizierter, als sie hoffte. Denn seit einiger Zeit war sie nicht mehr so sicher, ob sie nur Männer mochte. Manchmal schwärmte sie auch für die eine oder andere Frau. Es war für Valeria also nicht so einfach, sich in diesem Bereich zu identifizieren. Deshalb ließ sie die Sache lieber sein und konzentrierte sich auf die verfügbaren Bereiche ihres Lebens. Kjærlighet vil komme på det rette tidspunktet, das war Valerias Philosophie. Gott sei Dank wurde Valeria immer  hundertprozentig von ihrer Familie und ihren Freunden sowohl akzeptiert als auch unterstützt.
Nachdem Swen und Larissa das Lied beendet hatten, stoppte Valeria die Aufnahme und umarmte ganz fest ihre Lieblingsmenschen. Es wurde noch viel geplaudert und gelacht. Später wurde es etwas leiser. Jeder las das eigene Lieblingsbuch. Um 14:22 Uhr am 1. Dezember kamen sie endlich auf Sommarøy an. Zum Glück, da es sich von einer kleinen Insel handelte, war alles sehr nah aneinander, sowie auch die Unterkunft. Swen, Larissa und Valeria spazierten samt Koffer und Rucksack bis zur Ökohütte, die sich an der Küste befand. Inzwischen fing es an, leicht  zu schneien. Glücklicherweise waren alle drei mit ihren dicken Mänteln und Pullis gut ausgestattet. 


Einmal in der Ferienhütte angekommen, duschten alle nacheinander. Danach kochte Valeria Kaffee für alle, während Swen und Larissa etwas zum Essen vorbereiteten. Alle setzten sich dann zum Tisch. Es gab vor allem Lefse, eine Art norwegisches Fladenbrot, was Swen und Valeria schon immer gerne hatten. Swen wollte Larissa damit überraschen, die sehr interessiert war, die Lefse auszuprobieren. Während des Essens wurden Pläne geschmiedet. Alle wollten natürlich die Nordlichter bewundern, die ab spätem Nachmittag  bereits zu sehen waren. Und das wollten sie möglichst auf einem Boot machen. Es wurde also entschieden: Bootsausflug samt Bewunderung der bezaubernden Nordlichter, das war das nächste Programm für die Geschwister Krüger-Ormstrøm und Larissa. Gesagt, getan. Nach dem Essen zogen sich alle in Exkursion-Kleider um, holten ihre Rucksäcke und los. Sie spazierten in den kleinen Hafen ein, wo sie ein Boot geliehen haben. Sie holten ihre Rettungswesten aus dem Rucksack heraus, zogen diese an, dann stiegen sie ins Motorboot ein und fuhren los. Valeria steuerte. Swen und Larissa saßen entspannt. Bald wurden die ersten Nordlichter sichtbar. Irgendwo weiter (trotzdem nicht zu weit) von der Küste entfernt stoppte Valeria das Boot und alle widmeten sich dem bezaubernden Himmelsspektakel. Alle fotografierten sehr viel. Danach hatten Swen und Larissa die Idee, wieder ein Musikvideo aufzunehmen. Swen brachte natürlich seine Gitarre auch mit. Valeria war ebenfalls einverstanden, ihr gefiel die Idee sehr. Sie nahm die Musik von Larissa und Swen wieder gerne auf. Sie klickte also auf den Aufnahmeknopf. Diesmal wurde das Lied Stjernestøv der norwegischen Sängerin Aurora gesungen. Valeria erstaunte wieder, wie fantastisch  ihre potenzielle Schwägerin sang und über das hervorragende Gitarrenspiel ihres Bruders. Nach dem Lied plauderten Swen, Larissa und Valeria ein bisschen. Valeria erzählte über ihren Job und über das Doktorat, beziehungsweise von ihrer Doktorarbeit, welche sie gerade beendete. Swen und Larissa erzählten von der Uni: Swen vom Musikstudium, Larissa vom Germanistikstudium. Swen erzählte auch darüber, dass er von einer Musikschule entdeckt und beschäftigt wurde. Ab jetzt hatte er eine Stelle als Musiklehrer neben dem Studium. Valeria und Larissa gratulierten ihm ganz herzlich und ehrlich dazu. Später saßen alle ganz still im Boot, während sie die atemberaubende Sicht auf den Himmel voller Nordlichter genossen. 


Stunden später, zurück zum Hafen, wollten alle drei noch eine Rodeltour rund um die Insel machen. Zum Glück sahen sie nicht weit vom Hafen entfernt einige Rodel mit Rentieren. Sofort haben sie eine Rodel samt Rentiere geliehen. Vor dem Losfahren machten sie einige Fotos. Diesmal steuerte Swen. Larissa saß neben ihm und umarmte ganz fest seine Schulter, was er mit einem liebevollen Lächeln erwiderte. Valeria saß hinten und genoss die Tour. Die ganze Insel war voller Schnee. Sowohl Larissa, als auch die Geschwister mochten Schnee besonders. Sie stoppten an einem Strand, wo sie ein Lagerfeuer zündeten. Larissa hatte die Idee, am beschneiten Strand Taylor Swifts Lied Snow on the beach zu singen, begleitet von Swens Gitarrespiel. Swen und Valeria gefiel die Idee ebenfalls. Valeria drückte erneut den Aufnahmeknopf ihres Handys und es ging los mit dem neuen Musikvideo. Alles gelang Swen und Larissa wieder urleiwand, stellte Valeria während der Aufnahme fest. Sie genoss es immer, wenn sie ihrem Bruder als Kameraassistentin fungierte. Nach dem fertigen Video blieben alle drei noch eine Weile am Strand, machten Fotos davon, vom Lagerfeuer und von den Nordlichtern ebenfalls. Danach stiegen alle erneut auf die Rodel und fuhren zurück. Sie gaben dem Verleiher die Rodel zurück, streichelten und fütterten die Rentiere, schließlich kehrten sie zurück zu ihrer Ferienhütte.


Einmal angekommen, zogen sich alle um, aßen etwas zum Abendessen und tranken ein wenig Schlaf- beziehungsweise Nerventee. Das war ein Ritual, das alle drei sehr gerne machten. Danach sammelten sie sich alle im Wohnzimmer der Hütte auf und machten eine Leserunde vor dem Schlafengehen. Swen und Larissa lasen gemeinsam einen Liebesroman, Valeria las den neuen Fantasy ihrer Mutter, der großartigen, zauberhaften und europaweit bekannten Gunnhild Ormstrøm. Sie freute sich darüber, die neue Geschichte fand sie unglaublich spannend und kreativ. Dabei ging es um das Kennenlernen von zwei Feen und um ihr haarsträubendes gemeinsames Abenteuer. Valeria las sehr viel von klein an, mochte verschiedene Autoren, ihre Lieblingsautorin blieb jedoch ihre Mutter. Sie wünschte sich, genauso gut schreiben zu können, wie sie. Eines Tages vielleicht… Bald war ein Wiedersehen geplant, denn Gunnhild Ormstrøm kehrte normalerweise genau für Weihnachten zu ihrem Heimatland, Norwegen, zurück. Egal, was für eine erfolgreiche und beschäftigte Autorin Gunnhild war, Weihnachten gehörte für sie immer zur Familie, jene Zeit des Jahres verbrachte sie immer mit ihnen. Valeria freute sich bereits sehr darauf und entschied sich dafür, beim Weihnachtsabendessen ihre Mutter darüber zu fragen, woher genau sie die Inspiration für diese zauberhafte Geschichte genommen hatte. Valeria und Swen mochten Weihnachten sehr. In ihrer Familie wurde es auch besonders gefeiert. Statt Weihnachtsstress herrschten Hygge, Harmonie und Idyll zu jener Zeit in der Familie Krüger-Ormstrøm. Dazu trug jeder, aber wirklich jeder bei. Beim Fest sammelte sich dann die ganze, große Familie auf. Hannes Krüger, der Vater von Valeria und Swen, war auch immer da. Für Weihnachten pausierte er seine Konzerte und Tournees. Gunnhild Ormstrøm war natürlich ebenfalls anwesend, sowie der Rest der Familie: Großeltern, Onkeln, Tanten und Cousinen von beiden elterlichen Seiten. Jedes Jahr wurde Weihnachten immer in Norwegen, aber jedes Mal in einer unterschiedlichen Ortschaft gefeiert. Dieses Jahr wollten Swen und Valeria die ganze Familie auf der Insel Sommarøy als Gast aufnehmen und dazu haben sie eine große, jedoch gemütliche Ferienhütte gebucht. Sie planten, während der Adventszeit sich auf das große Weihnachtsfest vorzubereiten und in die richtige Stimmung zu kommen. Deshalb waren sie jetzt hier. Später, nach dem Lesen, gingen Larissa und die Geschwister ins Bett. Swen und Larissa wählten ein Mansardenzimmer, Valeria entschied sich für ein Terrassenzimmer neben dem Wohnzimmer, im ersten Stock. Als Valeria alleine blieb, begab sie sich noch für eine Weile auf der Terrasse und machte noch ein paar Nordlichtfotos für sich. Danach kuschelte sie sich ins Bett und schlief ein. Bei Swen und Larissa sah es ähnlich aus: nach ein bisschen Plaudern schliefen sie kuschelnd ein. 


TAMM-TAMM-TAMM-TAMMTAMM-TAMMTAMM-TAMM… 
Valeria wachte urplötzlich auf, weil  sie komische Geräusche hörte. Diese erinnerten sie an Trommeln, an uralten Wikingertrommeln, ungefähr solche, die auch in ihren Wardruna-Lieblingsliedern vorkamen. Valeria setzte sich auf und schaute auf ihrem Handy: es war 21:50 Uhr. Was könnten diese Geräusche sein? Swen spielte keine Trommeln, Larissa zwar, aber momentan nur die Handpan, welche sicher nicht so klingt und gar nicht um diese Uhrzeit. Nachbarn gab es hier keine. Wer oder was könnte es also sein? Trotz langen Überlegens fand Valeria keine Antwort auf ihre Fragen. Die Geräusche wurden aber immer stärker und lauter. Noch bevor diese auch Swen und Larissa aufwecken wurden, entschied sich Valeria dafür, der Sache nachzugehen. Sie stand also auf, ging aus dem Zimmer heraus und folgte den Geräuschen. Diese schienen aus dem Keller zu kommen. Valeria entdeckte eine Treppe, die nach unten führte. Sie ging hinunter, dort fand sie am Ende des Korridors eine Tür. Die Geräusche waren mittlerweile am lautesten. Wie ein Herzschlag, dachte Valeria, während sie die Tür öffnete und einging. Im kleinen Raum sah sie einen großen Bildschirm, auf dem geschrieben stand: Mytisk skattejakt. Aber um welche mythische Schatzjagd könnte es sich handeln? Valeria wusste es nicht. Sie hörte aber immer noch die uralten Trommelklänge.  Sie war besorgt, dass diese Swens und Larissas Schlaf stören könnten, also ging sie dem Bildschirm näher und suchte nach irgendeinem Knopf, den sie drücken könnte, um die Lautstärke zu senken. Sie fand aber keine ähnlichen Knöpfe. Sogar, als sie sich annäherte, begann der Bildschirm plötzlich komisch zu leuchten und gab irgendeinen Lichtstrahl aus sich heraus. Der Strahl traf Valeria und urplötzlich wurde alles um ihr dunkel. Alles geschah so schnell, sie hatte nicht einmal die Zeit, sich umzudrehen und aus dem Keller heraus zu rennen.

                                                                                ***
Als sie wieder zu sich kam, befand sich Valeria nicht mehr im Keller der Ferienhütte, sondern irgendwo draußen, in einem beschneiten Ort. Eins konnte sie aber feststellen: Es war nicht die Insel Sommarøy. Das spürte sie irgendwie schon. Sie schaute auf: Nordlichter im Himmel. Trotzdem nicht so, wie auf der Insel. Oder in anderen Teilen Norwegens oder Skandinaviens. Valeria schaute unter auf sich. Und der Schock traf sie in vollen Zügen. - WAS? WIE? - fragte sie sich. Sie war da, in der Mitte vom Nirgendwo und trug Wikinger-Kleidung. Das fand sie cool, denn sie liebte die skandinavische Mythologie und alles, was mit der Wikingerzeit zu tun hatte. Trotzdem wirkte all das jetzt ein bisschen komisch. Und urplötzlich verstand sie, wo sie sich befand. - Oida! Den mytiske skattejakten er et spill! Et videospill! Og jeg ble katapultert inn i spillet! HERREGUD!!! - rief Valeria voller Schock aus. Na toll, jetzt gab es volles Chaos für sie.


Valeria versuchte, sich zu beruhigen und sich auf irgendeine Lösung zu konzentrieren. Sie überlegte. Ihr Handy hatte sie ja im Schlafzimmer vergessen. Total cool. Jetzt war sie da auf sich alleine gestellt. Sie konnte nicht einmal Swen oder Larissa anrufen, denn ihr Handy war nicht dabei. “Aber ich habe sowieso das Gefühl, es würde auch nicht funktionieren, wenn ich es dabei hätte”, dachte sie sich in saurem Ton. Valeria atmete weiter.  Sie versuchte, die Nervosität auszuatmen. Wie würde sie jetzt aus dieser Situation kommen? Wie? Noch nie hatte sie sowas vorher erlebt. Noch nie. Surrealistische Videospiele, in die man hinein katapultiert wird? Ach komm schon, nicht einmal die zauberhafte Fantasy-Autorin Gunnhild Ormstrøm würde über sowas schreiben. Im Jumanji-Film geht es noch, aber… Valeria hatte jedoch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn plötzlich erschienen vor ihren Augen ein großer Baum, der neun Welten darstellte (in den Valeria natürlich sofort den Yggdrasil erkennen konnte), Urds Quelle und schließlich drei weibliche Gestalten. Verblüfft erkannte Valeria die drei Nornen aus der skandinavischen Mythologie, nämlich Urd, Verdandi und Skuld. Also die drei schicksalbestimmende Gestalten. Und Valeria traf sie jetzt! 
- HERREGUD!!!! - rief Valeria erneut aus. 


Ein wenig beruhigte sie sich, denn die skandinavische Mythologie war ja ihr Fachgebiet, trotzdem blieb sie gespannt. Was wäre als nächstes gekommen? Valeria blieb da stehen und blickte in die Augen der Nornen. Diese öffneten ihren Mund überhaupt nicht, jedoch hörte Valeria ihre Stimmen. Sie sprachen Altnordisch zu ihr. Zum Glück verstand sie jedes Wort, da sie sogar diese Sprache im Studium lernte. Im Monolog der Nornen ging es um die Bekanntmachung der Spielregeln. Valeria hat also mitbekommen, was sie alles tun muss. Nämlich wurden die 24 Runen von irgendwelchen bösen Wesen gestohlen und überallhin versteckt. Valerias Aufgabe war, diese wiederzufinden und dazu noch einen Eisstern zu finden. Die Nornen teilten noch mit, für Hilfe und weitere Indizen sollte sich Valeria an ihr Armband wenden. Erst jetzt bemerkte Valeria, dass sich nicht nur ihre Kleidung verändert hat, seitdem sie in diese komische Spielwelt eintrat, sondern auch hatte sie ein goldenes Armband an ihrem linken Arm. Das Armband erinnerte sie ziemlich an Freyas Brisingamen. Verblüfft erstarrte sie. Die Nornen teilten noch mit, dass sie sich von einigen Gestalten in Acht nehmen muss. Danach wünschten sie ihr viel Glück bei ihrer Reise und verschwanden genauso plötzlich, wie sie gekommen sind. Valeria blieb da alleine und überlegte. 


Okay, ich habe ihnen zugehört, sie sogar verstanden. Aber komm schon. Wie wahrscheinlich ist es eigentlich? Herregud… Bestimmt ist es jetzt irgendein Traum, den ich habe, weil ich mich in der letzten Zeit eventuell zu viel der skandinavischen Mythologie gewidmet habe… Ja, ja, det kommer til å bli sånn. Det er sannheten! Det kan bare være en drøm, ingenting annet. Dieses blöde Videospiel existiert nicht einmal, da bin ich ganz sicher. Oida, was für Spiele verschlingen eigentlich ihre Spieler in der realen Welt auf solche Weise? Okay, jetzt, wenn ich mich steche, werde ich bestimmt in der Hütte aufwachen und realisieren, dass ich alles nur geträumt habe. Wetten wir?


Gesagt, getan. Valeria stach sich mit dem Nagel ihres Zeigefingers auf den Arm. Zu ihrem größten Schock passierte aber nichts. Sie war immer noch da, stand im Schnee in Wikinger-Kleidung. - FAEN!!! - schimpfte Valeria. - FAEN, FAEN, FAEN, FAEN, FAEN, FAEN!!!! TUSEN GANGER FAEN!!!!!! Sie versuchte es ein weiteres Mal, doch das Ergebnis war dasselbe. Sie schimpfte erneut. Dann versuchte sie es noch sechsmal, mit demselben Ergebnis. Sie schimpfte wieder, als sie realisierte, dass sie ja tatsächlich im Spiel feststeckt. 

Valeria stand immer noch da, so perplexer, wie noch nie. Dann fiel ihr das Armband ein. Sie schaute auf ihren linken Arm, wo es sich immer noch befand. Sie berührte es ganz leicht. Plötzlich kam aus dem Armband ein Bild heraus. Valeria starrte verblüfft darauf und erkannte den mythologischen Gott Odin, der sich am Yggdrasil selbst aufhing, um das geheime Wissen bei den Wurzeln zu erlangen. - Hva i helvete må jeg gjøre???? - sprach Valeria im überlegenen Ton. Plötzlich durchfuhr sie die schockierende Erkenntnis… - Åh, nå forstår jeg… Åh, nei… - erläuterte sie wieder ihre Gedanken laut. Erst danach entdeckte sie die kleine Ikone unter dem projizierten Bild. Valerias ganzer Körper zitterte… Sie wusste, dass sie eine Entscheidung treffen sollte, und zwar so bald wie möglich. Sie dachte an ihren Bruder Swen und an dessen Freundin Larissa, die für sie fast wie eine eigene Schwester war. Sie dachte an ihre große Familie. Wenn sie sich jetzt nicht entscheiden könnte, wer weiß, ob sie ihre Familie und Larissa überhaupt wiedersehen dürfte? - Jeg må definitivt komme meg ut av dette dumme spillet! - entschied sich Valeria und drückte auf die Ikone. Und sie wartete… und wartete… was würde als Nächstes geschehen?


Für neun Sekunden geschah gar nichts. Aber danach… Danach fand Valeria sich selbst am Baum aufgehängt. Und zwar am Yggdrasil… genau wie Odin in der Mythologie. - Jeg er målløs… - kommentierte sie leise und trocken die Ereignisse. Zum Glück war sie noch in der Lage zu sprechen. Und jetzt? Valeria überlegte… vielleicht könnte sie es wieder mit dem Brisingamen-ähnlichen Armband versuchen? Gesagt, getan. Sie berührte es noch einmal. Dieses Mal kam eine Projektion von einer weiteren Ikone aus. Valeria klickte darauf. Urplötzlich begannen unbekannte, tiefe und uralte Stimmen aus dem Nichts zu sprechen. Es schien, als würden sie langsam von eins bis neun zählen. Zwischen den einzelnen Zahlen blieben einige Pausen. Valeria wurde es ganz klar: das war die Simulation der neun Tage, die bei Odin vergingen. Und hier würde sie, Valeria Krüger-Ormstrøm, zufällige Besucherin dieses urkomischen Spieles, bald das geheime Wissen erwerben. Und hoffentlich auch über die verschwundenen Runen und über den Eisstern etwas herausfinden.


Valeria fühlte, als wären ihre Augen schwer, wie Blei und als würden sie sich  ganz von sich selbst schließen. Sie fiel in einen tiefen Trancezustand, quasi gefangen zwischen Traum und Wachsamkeit. Und da kamen ihr die ersten Visionen… Zuerst sah Valeria ein Rad mit den 24 Runen, das sich langsam drehte. Neben dem Rand befand sich eine Tanne, auf ihrem Gipfel leuchtete der Eisstern. Symbol der Wintersonnenwende, die bereits die Wikinger feierten… Danach sah Valeria auch, wie diese Runen verschwunden waren. Irgendein Schatten nahm sie einfach weg, samt Eisstern, und verstreute diese einfach auf zufällige Weise in all den neuen Welten. Urplötzlich wurde alles wieder dunkel. Valeria fiel hinunter.


Als Valeria wieder zu sich kam, war sie wieder bei den Wurzeln des Yggdrasils. Sie hing nicht mehr vom Baum. Erleichtert atmete sie auf. Dann fiel ihr plötzlich ihre Vision ein. Ihre Vision, von der sie sich an jedes einzelne Detail erinnerte. - Kjempebra… - murmelte sie ironisch vor sich selbst. - Og nå? Hva faen kommer? -  fragte sie sich perplex. Es war eine Sache, sich auf dem Niveau des Recherchierens, des sachlichen Betrachtens mit der nordischen Mythologie zu beschäftigen und es war eine komplett andere Sache, sich hautnah in ihr zu befinden, in einer virtuellen Realität, wo alles passieren könnte und vielleicht auch nicht ganz so, wie ursprünglich in den mythologischen Sagen… Sehe zum Beispiel das Verschwinden der Runen oder den Eisstern an sich selbst… Eins war sicher: einmal, nachdem es ihr gelingen würde, den Weg raus aus diesem Wahnsinn zu schaffen, Valeria hätte ganz bestimmt nicht losgelassen, bis sie den Entwerfer des Spiels gefunden hätte… Das war sicher, wie Ragnarök in der nordischen Mythologie. 

Valeria brauchte schnell einen Plan. Wenn sie aus dem Spiel rauskommen und ihre Familie wiedersehen wollte, musste sie handeln. - Ok, la oss finne de forsvunne runene igjen… - seufzte sie tief. Sie erinnerte sich an das Brisingamen-Armband. Sanft streichelte sie es. Sie kannte die Liste der 24 Runen des Futharks auswendig, also dachte sie an die erste Rune: Fehu. Ihr Armband begann wieder, ein Bild zu projizieren. Es war wieder Yggdrasil zu sehen, aber diesmal gab es einen Pfeil, der auf die Welt von Midgard zeigte. - Also in der Welt der Menschen… cool. Na, schauen wir, wie diese hier aussieht. - murmelte Valeria. Urplötzlich erinnerte sie sich an die Bedeutung der Rune Fehu, nämlich: Vieh, materieller Wohlstand, Hoffnung, Reichtum, glückliche Umstände, Geld, Überfluss, sozialer Erfolg (positiv); sowie Verlust von Eigentum und Ansehen, Zwietracht, Feigheit, Gier, Zwang, Gleichgültigkeit (negativ). Ganz menschverbunden, oder? Also, es gab schon eine bestimmte Logik, warum sie laut den Instruktionen diese Rune in Midgard, in der Welt der Menschen suchen musste.

- Kanskje dette spillet ikke er så dumt likevel, som jeg først trodde… - dachte Valeria halblaut. - Det er en viss logikk her. - fügte sie noch hinzu. Und dann entschied sie sich. - NÅ ELLER ALDRI! - rief sie, indem sie zum Yggdrasil-Baum loslief und den Sprung in die Welt von Midgard wagte. 


                                                                        ***


Valeria landete auf einem Sack Heu. Rasch stand sie auf. Erstaunt schaute sie herum: sie befand sich auf einem Wikinger-Markt, nicht weit von einem Fjordhafen. Der erste Schnee muss vor kurzem gefallen sein. Das Panorama war atemberaubend. Überall schneebedeckte Landschaften, Berge und immergrüne Tannenwälder. In der Nähe erstrecken sich der Hafen und der Fjord. Zum ersten Mal seit der Katapultierung in diesen ganzen Wahnsinn begann Valeria eine gewisse Begeisterung und Abenteuerlust zu fühlen. - Okay, wo finde ich die erste Rune? - überlegte sie. - Fehu, hvor er du? - sobald sie die Frage geflüstert hat, streichelte sie wieder sanft ihr Brisingamen-Armband. Es “antwortete” ihr natürlich im Bruchteil der Sekunde. Diesmal wurde das Bild eines norwegischen Fjordpferdes projiziert. Valeria wunderte sich, ob auch die ganz vielen anderen Leute, die sich auf dem Markt befanden, das Bild gesehen hatten oder war nur sie diejenige, die diese Ehre hatte. Aber zum Glück schien niemand das Bild zu bemerken. Die Menschen wirkten, als seien sie eher Mustercharaktere. Wer wusste schon, ob sie tatsächlich dialogfähig wären? Und welche Sprache würden sie sprechen? Altnordisch, wie die drei Nornen oder eher modernere Sprachen? Valeria wusste es nicht. Sie konzentrierte sich darauf, sich die physischen Eigenschaften des gezeigten Pferdes genau zu merken, damit sie es dann finden konnte. Urplötzlich fiel ihr die Frage ein, ob sie überhaupt irgendeine Geldwährung hatte. Sie erinnerte sich daran, dass sie hier seit ihrer Einkatapultierung eine Wikingerkleidung trug. Geführt von einer plötzlicher Idee griff sie in ihre Bekleidungstasche,  die mit heutigen modernen Augen als ziemlich archaisch resultieren würde, und verblüfft erstarrte sie, als ihre Hände etwas berührten: nämlich befanden sich dort sieben kleine Säcke, die sich anhand der Tastempfindung ganz voll anfühlten. Perplex starrte Valeria vor sich selbst. Sie entschied sich, einen Versuch zu machen, und öffnete einen der kleinen Säcken. Zu ihrem größten Schock fand sie eine riesige Menge von Silberhorten! Erleichtert atmete sie auf. Sie hatte also Geld! Und zwar genug, um in diesem wahnsinnigen Spiel zu überleben. Übrigens, welches Spiel ist schon so, dass man zusätzlich eine Menge Geld hinzu bekommt? Das zählte aber nicht. Was zählte, und ihr plötzlich klar wurde: Valeria musste das Fjordpferd irgendwie kaufen. Es hatte ganz bestimmt etwas mit der Rune Fehu zu tun. Das war todsicher.


Valeria spazierte durch den Markt. Außer ein paar verblüfften Blicken (wahrscheinlich wegen ihrer auffallenden lila Haarfarbe, die auch hier so blieb) wurde sie kaum von jemandem bemerkt. Sie fand schnell den Stand, wo Pferde verkauft wurden. Sie sprach den Verkäufer auf Altnordisch an. Der konnte ihr antworten. Valeria stellte sich als Valyria Lillahårede vor, beschrieb das Pferd und fragte nach, ob es verfügbar sei. Der Verkäufer antwortete ihr, dass das gesuchte Pferd leider den vorigen Tag weggelaufen sei, und zwar Richtung Nordens, wo es schon Wiesen und Berge gab. Valeria bedankte sich für die Information und bei einem anderen Stand kaufte sie sich einen Beutel und genug zum Essen und Trinken.


Sie entschied sich, Richtung Nordens zu gehen und das Pferd zu suchen. Gesagt, getan. Valeria konnte sich auch in der realen Welt ausgezeichnet und ziemlich intuitiv orientieren. Sie ging also los. Ihr Weg führte außerhalb des Markts. Es gab zwar einige Menschen, die ihr entgegenkamen, aber niemand beschäftigte sich wirklich mit Valeria. Sie freute sich jedoch darüber. Je nördlicher Valeria spazierte, desto weniger bewohnte Gegend gab es. Die Wiesen wurden häufiger, nicht weit entfernt waren auch schon Berge zu sehen. Valeria gefiel diese Wikinger-Wunderwelt immer mehr. Sie war immer neugieriger darüber, was noch kommen würde und begann, das ganze Geschehene als Abenteuer zu betrachten. Plötzlich hatte sie die Intuition, dass sie das Armband über den nächsten Schritt fragen muss. Genau so tat sie. Langsam gewöhnte sie sich an diesen außergewöhnlichen Dialog mit dem Brisingamen-Armband.  Diesmal sah Valeria eine Projektion über einen verlassenen Stall in der Mitte einer schneebedeckten Wiese. Der Stall war aus Holz und hatte zwei Symbolen an: eine Sonne und einen Mond. Valeria zitterte vor lauter Aufregung. Dort hätte sie ganz bestimmt das Fjordpferd gefunden, das spürte sie sowieso. 


Nach gefühlt zwei Stunden - aber genau konnte Valeria es nicht wissen, denn sie hatte keine Uhr dabei - erreichte sie ihr Ziel. Es ist ihr gelungen, den Stall zu finden. Vorsichtig öffnete sie die Tür und ging rein. Dort befand sich das norwegische Fjordpferd aus der Projektion. Valeria näherte sich sanft zu ihm an. Das Pferd war ganz zahm und ließ sich von ihr streicheln. Es war sowieso aufgesattelt. Plötzlich fiel etwas von seinem Sattel zum Stallboden herunter. Im Bruchteil der Sekunde beugte sich Valeria, um danach zu schauen. Sie konnte ihren Augen kaum glauben, jedoch war es da: es war die Rune Fehu! Um genauer zu sagen, es war ein rundes Holzstück mit der Rune Fehu drauf und hatte noch einen kleinen Aufhänger dazu. Valeria atmete stolz und erleichtert auf. Sie hat es geschafft: sie hat die erste Rune gefunden! Sie lächelte das Pferd glücklich an. - Det er så hyggelig… - flüsterte sie, nachdem sie die Rune in ihren Beutel verstaute und sich neben das Pferd einkuschelte. Danach schlief sie urplötzlich ein.




ÜBERSETZUNGEN ALLER NORWEGISCHEN SÄTZE UND WÖRTER IN DIESEM KAPITEL:


  • Ulvetime = Wolfsstunde
  • broren min = mein Bruder
  • Tusen takk, søsteren min = Vielen Dank, meine Schwester!
  • Du er veldig snill! = Du bist sehr nett!
  • Bare hyggelig! = Sehr gerne! / Gern geschehen!
  • Nytt imellom oss = Neues zwischen uns
  • Kjærlighet vil komme på det rette tidspunktet. = Die Liebe wird im richtigen Moment kommen.
  • Stjernestøv = Sternenstaub
  • Den mytiske skattejakten er et spill! Et videospill! Og jeg ble katapultert inn i spillet! HERREGUD!!! = Die mytische Schatzjagd ist ein Spiel! Ein Videospiel! Und ich wurde ins Spiel hineinkatapultiert! MEIN GOTT!!!
  • Ja, ja, det kommer til å bli sånn. Det er sannheten! Det kan bare være en drøm, ingenting annet. = Ja, ja, das wird es. Das ist die Wahrheit! Das kann nur ein Traum sein, nichts anderes.
  • TUSEN GANGER FAEN!!! = TAUSENDMAL ZUM TEUFEL!!!
  • Hva i helvete må jeg gjøre???? = Was zur Hölle muss ich tun????
  • Åh, nå forstår jeg… Åh, nei… = Ach, jetzt verstehe ich... Oh, nein...
  • Jeg må definitivt komme meg ut av dette dumme spillet! = Ich muss sicher raus aus diesem blöden Spiel!
  • Jeg er målløs… = Ich bin sprachlos...
  • Kjempebra… = Furchtbar gut...
  • Og nå? Hva faen kommer? = Und jetzt? Was zum Teufel kommt?
  • Ok, la oss finne de forsvunne runene igjen. = Okay, lass uns die verschwundenen Runen wieder finden.
  • Kanskje dette spillet er ikke så dumt likevel, som jeg først trodde... = Vielleicht ist dieses Spiel gar nicht so dumm, wie zuerst gedacht...
  • Det er en viss logikk her. = Es gibt hier eine bestimmte Logik.
  • NÅ ELLER ALDRI! = JETZT ODER NIE!
  • Fehu, hvor er du? = Fehu, wo bist du?
  • Lillahårede = die Lilahaarige
  • Det er så hyggelig… = Das ist so gemütlich...





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