Als Valeria aus dem Schlaf aufwachte, befand sie sich immer noch im Stall neben dem Pferd. Und anscheinend immer noch in Midgard. Ihr wurde klar, dass sie von den nächsten Runen ganz sicher weitere hier finden musste, sonst wäre sie zurück zum Yggdrasil katapultiert worden. Valeria streichelte das Fjordpferd, das sie inzwischen Fjordi taufte. Sie fütterte es und gab ihm ebenfalls zum Trinken. Danach überlegte sie, ob sie vielleicht mit ihm weiterziehen oder es dort im Stall lassen sollte. Urplötzlich schaute Fjordi ganz tief in Valerias Augen, als würde es ihr die folgende Botschaft mitteilen: “Für den Moment müssen wir uns verabschieden. Jedoch komme ich zu dir bald zurück. Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich in Gedanken.”
- Oh, Fjordi… - flüsterte Valeria zu ihm.
Ein bisschen schockierte sie der Fakt, dass in diesem wahnsinnigen Spiel sowieso alles sofort auf ihre Gedanken antwortet, immer noch. Ob sie sich irgendwann daran gewöhnen könnte? Sie wusste es nicht. Vielleicht würde es eben bei der letzten Rune geschehen, wer weiß… Valeria umarmte und streichelte Fjordi noch einmal, dann nahm ihren Beutel, schaute das Pferd freundlich an, schließlich spazierte sie aus dem Stall heraus. Valeria hasste Abschiede bereits in der realen Welt. Jedoch, warum es ihr in so einem wahnsinnigen Spiel, sich von einem Pferd zu verabschieden, so schwer fiel, blieb ihr weiterhin ein ungelöstes Rätsel. Während des Gehens versuchte Valeria, stark zu bleiben und nicht in Tränen auszubrechen. Sie musste sich konzentrieren. Eine Rune hat sie zwar gefunden, aber weitere 23 verblieben. Und sie musste diese ebenfalls finden. Zusammen mit einem Eisstern, der auch fehlte… All das war Valerias Verantwortung. Plötzlich durchfuhr sie die Erkenntnis: 24 Runen zu finden… 24… genau, wie die Adventtage! Handelte es sich hier von irgendwelcher nordmythologischen Adventschatzjagd? Höchstwahrscheinlich ja. Valeria musste es schon zugeben: wer auch immer dieses verrückte Spiel entworfen hat, hat eine geniale Arbeit durchgeführt. Ihre frühere Rachgier mutierte inzwischen zu einer tiefen Bewunderung. Sie wollte zwar immer noch den Entwerfer, beziehungsweise die Entwerferin des Spieles finden, aber jetzt nur noch, um mit ihm oder ihr über die Genialität und Kreativität des Gestaltungsprozesses zu konversieren.
Valeria konzentrierte sich auf das Futhark. Die zweite Rune war Uruz und bedeutete: Kraft, Gesundheit, Hartnäckigkeit, Mut, Tatkraft, Selbstbestimmung, Weisheit, Verwurzelung, sexuelle Potenz (positiv), Krankheit, Ignoranz, Unbesonnenheit, Gewalt (negativ). Valeria erinnerte sich auch noch daran, dass die Uruz-Rune auch eine Verbindung zum Urtier Auerochse hatte: nämlich erinnert die Form der Rune selbst an die Hörner des Tieres. Valeria streichelte sanft ihr Brisingamen-Armband. Diesmal kam das folgende Hilfsbild: eine halboffene Flussau, wo das Ufer zwar bereits mit Schnee bedeckt war, aber das Wasser noch nicht zufror. Dort liefen ganz viele Auerochsen herum. Valeria erstaunte, denn in der realen Welt existierte der Auerochse schon seit Jahrhunderten nicht mehr. In diesem Spiel aber doch! Das Armband zeigte Valeria ein weiteres Bild: sie musste eine Wiese durchqueren, danach neun Berge umrunden. - Så det er veien - beobachtete Valeria und fühlte sich sehr dankbar. Erleichtert und mit neuer Kraft ging sie weiter.
Während des Weges dachte sie darüber nach, wie sie bisher zum Schreiben von Geschichten stand. Nämlich hielt sie sich für gar nicht talentiert und hat nicht einmal angefangen, obwohl sie den Beruf ihrer Mutter ziemlich bewunderte. Neben dem Unterrichten wollte Valeria sich auch mal als Schriftstellerin ausprobieren. Jetzt fiel ihr ein, dass sie, nachdem sie einmal aus diesem Spiel rauskommen würde, das ganze Abenteuer schriftlich dokumentieren könnte. Daraus wäre bereits eine voll coole Geschichte entstanden. Und diese würde wahrscheinlich auch Valerias Mutter, der wunderbaren Fantasy-Autorin Gunnhild Ormstrøm, sehr gut gefallen. Valeria war sehr zufrieden mit ihrer Idee und fing an, sich darauf zu konzentrieren, dass ihr alles, was bisher geschah und was noch geschehen wird, auch im Kopf bleibt, sodass, einmal zuhause, sie alles genau aufschreiben und zu einer Geschichte strukturieren könnte.
Bald kam sie auf der Wiese an. Diese war aber nicht ganz leer, wie im Hilfsbild gezeigt. Nämlich standen da viele Wikinger-Krieger, die für den letzten Kampf übten. Valeria zählte ungefähr 24 von ihnen. - Hva faen??? Er de også 24??? Som runene??? - fragte sie sich im leisen Ton, perplex. - Hva helvete betyr det??? - fügte sie noch hinzu. Ihr blieb aber plötzlich der Atem fast stehen: nämlich fühlte sie sich beobachtet. Sie schaute auf und musste mit 48 starrenden und verblüfften Augen gegenüberstehen. All die Krieger (natürlich alle Männer!) starrten auf sie. Sie hatten Schwerte und Bögen mit Pfeilen. Valeria atmete tief ein. Plötzlich fühlte sie irgendetwas auf ihrer Seite und auf dem Rücken. Sie berührte sich dort, um zu checken, was da war. Zu ihrer größten Überraschung fand sie ebenfalls ein Schwert sowie einen Bogen und Pfeile auf ihrem Rücken. Sie entschied sich dafür, dass sie sich dem Verblüfftsein später widmen würde. “Jeg har ikke tid til å bli overrasket nå”, dachte sie. Valeria stand also da und schaute die 24 Krieger an. Diese starrten zurück, machten jedoch zurzeit keine Bewegung. “Und wie geht es jetzt weiter?”, fragte sich Valeria im Gedanken. Ihr fiel Fjordi ein. Ob das Pferd ihr jetzt helfen könnte? Und was, wenn sie es gerufen hätte, aber damit nur Gefahr bringen würde? Es wäre besser, das Leben eines neuen Freundes nicht gleich aufs Spiel zu setzen. Alles war wie ein Stillstand vor dem großen Sturm. Und Valeria musste nicht lange warten, um die nächsten Geschehnisse zu erfahren.
Nämlich schrien die 24 Krieger auf und bewegten sich alle in ihre Richtung. Jedoch, statt in Panik zu geraten, blieb Valeria überraschenderweise ruhig. Denn sie hatte ja dieselbe Waffen wie diese Männer. In der realen Welt war sie ebenfalls mit dem Bogenschießen vertraut. Sie konzentrierte sich. Wahrscheinlich war das schon wieder irgendeine Prüfung, die sie bestehen musste, um die Rune zu bekommen. Sie konzentrierte sich also auf die positiven Bedeutungen der Rune Uruz, nämlich auf Gesundheit, Tatkraft, Mut, Verwurzelung, Weisheit und Selbstbestimmung. Sie stellte sich vor, dass sie diese Männer erfolgreich bekämpfte. Mit vollem Kopf konzentrierte sie sich nur auf diese einzige Vision. - Jeg må vinne. - flüsterte sie entschlossen vor sich hin. Dann nahm sie den Bogen aus und bereitete auch die Pfeile zum Schießen vor. Ganz rechtzeitig, denn die Krieger waren ihr schon ziemlich nah. Sie begannen, sie anzugreifen. Valeria schoss und traf den ersten. Normalerweise war sie gegen Gewalt und hätte niemandem geschadet. Aber in diesem verrückten Spiel waren die Regeln ganz anders als zuhause in der realen Welt. Und diese Männer haben sie angegriffen. Es war ganz bestimmt Teil der Prüfung, diese zu besiegen, also schoss Valeria weiter. Sie traf immer. Komischerweise ließen sich die meisten Krieger leicht besiegen. Nur ein paar wehrten sich zuerst, jedoch, dank ihrer Hartnäckigkeit, schaffte es Valeria, sie endlich zu besiegen. - Drittsekker… - flüsterte sie vor sich hin, nachdem auch der letzte Krieger zum Boden gefallen war.
Sie schaute geekelt herum. - Oida, was für ein Kriegsfeld… - dachte sie halblaut. Ihr gefiel es überhaupt nicht, vor allem, weil es ihr Werk war. Sie schaute zwar manchmal solche Filme, hatte aber in Wirklichkeit keine mörderische Natur. Übrigens, wieso sah sie die 24 Krieger auf dem Hilfsbild des Armbands nicht? Diese Frage ließ sie sowieso nicht los. Aber egal, später würde sie sich damit nochmal beschäftigen. Ihr fiel noch was ein. Sie beugte sich und rezitierte ein kurzes Gebet, damit die 24 Krieger gut in Valhalla ankommen würden. Das fühlte sich für richtig an. Danach ging Valeria weiter zu den neun Bergen, die sie umrunden musste, und hoffte, bloß keinen Kriegern mehr begegnen zu müssen.
Dieses einzige Mal war genug für sie. Ihr fiel dringend eine Frage ein: Was wäre passiert, wenn sie im Spiel aus irgendwelchen Gründen ums Leben gekommen wäre? Hätte sie weitere Leben, wie im Jumanji-Spiel in jenem depperten Film? Denn Valeria spürte das auch, es begann hier ernsthafter zu sein. Kein Witz, kein Traum. Für Valeria begann Weihnachtsstress eine ganz andere Bedeutung zu haben: sie war da mit 30, angenommen zweiundzwanzig Tage vor Weihnachten, in einem verrückten Spiel, woraus sie nur dann auskommen könnte, wenn sie den dortigen Regeln folgen würde. Wie verrückt, oder? Normalerweise war Valerias Leben ganz berechenbar und die einzige spannende Ereignisse waren ihre Reisen rund um die zwei Heimatländer und den Rest der Welt. Nie passierte noch in ihrem Leben etwas, das sie mehr oder weniger nicht kontrollieren konnte… - Tusen ganger faen… - murmelte Valeria, während sie ihren Weg weiterging.
Später, nachdem sie die neun Berge problemlos und ohne weiteren gefährliche Begegnungen umrunden konnte (es gab nicht einmal eine bloße Seele außer ihr auf dem Weg), kam Valeria endlich zur halboffenen Flussau an. Dort gab es viele Auerochsen, die friedlich das noch frei fließende Wasser tranken und dann sich friedlich hinlegten, um sich ein bisschen zu erholen. Nur einer von ihnen näherte sich Valeria an, als würde er ihr etwas zeigen. Der Auerochse führte sie zum Fluss und ermutigte sie, hineinzuschauen. Valeria entdeckte etwas im Wasser. Sie streckte ihren Arm und griff danach, dann zog es heraus. Es war ein weiteres rundes Holzstück mit einem kleinen Aufhänger dazu und darauf stand die Rune Uruz. - Endelig… jeg har allerede to runer. - erkannte Valeria und erfreute sich wieder, während sie die Rune trocknete und danach in ihren Beutel stellte. Valeria wusste allerdings gar nicht, wie die Zeit innerhalb des Spieles im Vergleich zur Zeit in der realen Welt verlief, aber auch da begann es dunkel zu sein. Sie entschied sich also dafür, in einer Berghöhle zu übernachten. Gesagt, getan. Vor dem Einschlafen dachte sie an ihre Familie. Und ebenfalls an Fjordi.
***
Mittlerweile in der Ferienhütte auf Sommarøy erlebten Swen und Larissa die unhyggeligsten Geschehnisse aller Zeiten. Nämlich verging ein ganzer Tag so, dass es von Valeria keine Spur gab.. Und Swen bemerkte, dass ihr Handy noch in ihrem Zimmer auf dem Schreibtisch lag, was ganz untypisch für Valeria war: nämlich brachte sie ihr Handy immer überall mit, vor allem wenn sie irgendwo hin alleine ging. - Dette er så rart - fasste Swen zusammen, nachdem er und Larissa den ganzen Tag im und rund ums Ferienhaus nach Valeria gesucht haben. Eigentlich wollten sie das Haus für Weihnachten vorbereiten, jedoch wegen des Verschwindens wurde dieser Plan gestrichen. - Hvor er hun??? Hvor er søsteren min Valeria??? Hvorfor i helvete kan vi ikke finne henne??? - rief Swen traurig und gestresst auf. Die ganze Situation war neu. Noch nie ist sowas passiert, geschweige denn in der normalerweise hyggeligen Adventszeit. Larissa seufzte tief und setzte sich auf das Sofa neben Swen. Sie umarmte ihn ganz fest und küsste ihn, was er erwiderte. Danach sprach sie sanft zu ihm: - Keine Sorge, kjæresten min, wir werden unsere liebe Valeria schon finden. -
Swen schaute sie sehr dankbar tief in die Augen. Sie hielten die Hände voneinander ganz still für einige Sekunden. - Soll ich uns ein paar Lefsen vorbereiten? - fragte Swen im süßen Ton. Larissa, die normalerweise sehr gerne die typische norwegische Fladenbrote der Geschwister Krüger-Ormstrøm aß, lehnte jedoch diesmal ab. Swen verstand sie natürlich. Es stellte sich heraus, dass keiner der beiden nach dem Geschehenen wirklich Appetit hatte.
- Okay, versuchen wir es doch zusammenzufassen. - schlug Larissa vor. - Valeria hätte es uns doch gesagt, wohin sie geht. Es sei denn, sie ginge wegen einer Überraschung weg. Jedoch wäre sie auch in jenem Fall zu dieser Zeit bereits hier zuhause bei uns. - begann sie die Aufzählung der gewussten Fakten.
- Stimmt! - erwiderte Swen. - Und sie hätte ihr Handy ganz bestimmt mitgenommen. Und uns damit bescheid sagen, ob was ist. Zweitens, sie würde sich ganz bestimmt nicht verlaufen. Das ist auch sicher. Und dass sie von hier, von ihrer lieben zweiten Heimat ganz einfach abhauen würde, das glaube ich auch nicht. Sie mag es genauso wohl hier in Norwegen zu sein als in Österreich. Also eine Rückreise nach Linz ohne unsere Benachrichtigung ist ebenso völlig ausgeschlossen. - fuhr er weiter.
- Wir haben sie überall gesucht, jedoch keiner hatte sie rund um die Insel gesehen. Sie war an keinem der gestern besuchten Orte. Und hier leben normale Leute. Also ist eine Entführung ebenfalls ausgeschlossen. - reagierte Larissa.
- Und wie geht es jetzt weiter? - fragte Swen.
- Jeg vet ikke… - antwortete ihm Larissa. - Vielleicht sollten wir den Fall bei der Polizei melden. Die könnten uns wahrscheinlich weiterhelfen. - schlug sie dann vor.
- God idé, min kjære. Das werden wir machen. - erwiderte Swen. Danach stand er auf und rief die Polizei an, um seine Schwester als vermisst zu melden.
ÜBERSETZUNGEN ALLER NORWEGISCHEN SÄTZE UND WÖRTER IN DIESEM KAPITEL:
- Så det er veien. = Das ist also der Weg.
- Hva faen??? Er de også 24??? Som runene??? = Was zum Teufel??? Sind sie auch 24??? Wie die Runen???
- Hva helvete betyr det??? = Was zur Hölle bedeutet das???
- Jeg har ikke tid til å bli overrasket nå. = Ich habe jetzt keine Zeit, überrascht zu sein.
- Jeg må vinne. = Ich muss gewinnen.
- Drittsekker… = Scheißkerle...
- Tusen ganger faen… = Tausendmal zum Teufel...
- Endelig… jeg har allerede to runer. = Endlich... ich habe schon zwei Runen.
- Dette er så rart. = Das ist so komisch.
- Hvor er hun??? Hvor er søsteren min Valeria??? Hvorfor i helvete kan vi ikke finne henne??? = Wo ist sie??? Wo ist meine Schwester Valeria??? Warum zum Teufel können wir sie nicht finden???
- kjæresten min = mein Liebling
- Jeg vet ikke... = Ich weiß nicht...
- God idé, min kjære. = Gute Idee, meine Liebe.
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